Persönliche Assistenz statt Festbinden am Bett

Das Landessozialgericht Stuttgart (LSG) hat am 8.7.2015 mit einem wegweisenden Urteil entschieden, dass das Sozialamt unter bestimmten Voraussetzungen die Kosten umfangreicher persönlicher Assistenz für einen Menschen mit Behinderung – zusätzlich zu den Heimkosten – tragen muss (L 2 SO 1431/13). Der Sozialhilfeträger war durch das LSG bereits mehrfach im Eilverfahren verpflichtet worden, neben den Heimkosten monatlich rund 6.100 € für persönliche Nachtwachen an das Pflegeheim zu bezahlen. Das Sozialgericht Freiburg war dagegen der Auffassung, das Pflegeheim müsse der Betroffenen zwar rund um die Uhr eine persönliche Assistenz zur Verfügung stellen, habe aber (neben dem Heimentgelt) keinen Anspruch auf eine Vergütung für diese kostenintensive zusätzliche Leistung. Das LSG hat dieses Urteil jetzt aufgehoben und den Sozialhilfeträger verurteilt, "ab dem 1. Januar 2012 die Kosten für weitere Leistungen der Hilfe zur Pflege in Höhe von monatlich 6.166,- € für eine Nachtwache von 19.00 Uhr abends bis 07.00 Uhr morgens" zu tragen. Die Revision wurde nicht zugelassen. Der Sozialhilfeträger kann innerhalb eines Monats beim Bundessozialgericht (BSG) die Zulassung der Revision beantragen.

Das Urteil des LSG hat weitreichende menschenrechtliche Bedeutung. Die Betroffene wurde in der zweiten Jahreshälfte 2011 jede Nacht 12 Stunden an ihrem Bett festgebunden ("fixiert"). Der gesetzliche Betreuer hatte diese Maßnahme unter Protest angeordnet, weil er keine andere Möglichkeit mehr sah. Die betagte, psychisch sehr kranke Betroffene war nachts außerordentlich unruhig und dabei körperlich ausgesprochen mobil, was zu großen Problemen im Pflegeheim führte. Das Betreuungsgericht genehmigte das Festbinden [§ 1906 BGB]. Der Betreuer hatte allerdings gleichzeitig beim Sozialamt beantragt, dass zusätzlich zu den Heimkosten die Kosten für persönliche nächtliche Assistenz übernommen werden. Das Sozialamt lehnte das ab, wurde aber im Dezember 2011 durch eine einstweilige Anordnung der 9. Kammer des SG Freiburg, diese Kosten (6.166 € monatlich) zu übernehmen. Seither ist die Betroffene gut versorgt. Fixierungsmaßnahmen sind nicht mehr notwendig.

Im Kern geht es in diesem Verfahren damit um die Frage, ob Menschen mit Behinderung unter bestimmten Voraussetzungen einen schweren Eingriff (wie das allnächtliche zwölfstündige Festbinden am Bett) erdulden müssen, oder ob sie einen Rechtsanspruch auf die Hilfen haben, die einen solchen Eingriff entbehrlich machen. Aus menschenrechtlicher Perspektive kann diese Frage nur so beantwortet werden, wie das LSG Stuttgart das nun getan hat.

Das langwierige und sehr kontrovers geführte Verfahren zeigt jedoch, dass diese Auffassung keineswegs Allgemeingut ist. Der Sozialhilfeträger hat in dem Verfahren deutlich zum Ausdruck gebracht, dass er es für vollkommen unangemessen hält, einen Betrag von mehr als 6.000 € im Monat aufzuwenden, um die allnächtliche zwölfstündige Fixierung einer betagten Frau – die oft abends unter Tränen bat, nicht festgebunden zu werden – zu verhindern. In der ersten Instanz hatte er mit seiner Auffassung Erfolg. In der Begründung des erstinstanzlichen Urteils führt das SG Freiburg zwar aus, die Klägerin habe durchaus Anspruch auf die Leistung, allerdings keinen Anspruch darauf, dass die Kosten dafür übernommen werden. Das Pflegeheim müsse diese Leistung kostenlos erbringen. Aber da das nun einmal nicht möglich ist, wäre es – spätestens nach dem Konkurs des Pflegeheims – wieder zum Festbinden gekommen, wenn das LSG die erstinstanzliche Entscheidung bestätigt hätte.

In Einrichtungen sind freiheitsentziehende Maßnahmen wie das "Fixieren" am Bett nur erlaubt, wenn das Betreuungsgericht die Maßnahme genehmigt. Das Betreuungsgericht darf diese Genehmigung nur erteilen, wenn mildere Mittel nicht ausreichen – also wenn es wirklich gar nicht anders geht. Künftig müssen Betreuungsrichterinnen und -richter das aktuelle Urteil des LSG Stuttgart berücksichtigen, wenn sie prüfen, ob eine Fixierung durch mildere Mittel vermieden werden kann.[Urteil LSG Stuttgart]

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